Cover Image

Sicherheit - sicher nicht im ÖV

Wie fühlst du dich am Abend, nach einem Konzert, alleine auf der Heimfahrt in der S-Bahn und es steigen eine Gruppe auffälliger Jugendlicher in den Zug? Magst du es, am Billettautomaten angebettelt zu werden, während dem du deine Fahrkarte bezahlst? Was sagst du zu dem grossen Mann, der dir auf dem Bahnsteig schamlos seinen Zigarettenrauch ins Gesicht bläst? Wie begegnest du dem jungen Typen, der dich mit seinem Kickboard bei der Bahnsteigrampe über den Haufen fährt?

Was erwartest du von den Angestellten des ÖV?

Ich bin einer von denen. Der ÖV ist Beruf und Berufung für mich. Ich bin hilfsbereit und es freut mich, wenn ich Reisenden zu einem angenehmen Bahnerlebnis verhelfen kann. Meine Aufgaben sind zu 75 % klar definiert. Den Rest wird je nach Situation, von den Vorgesetzten bestimmt oder von der Kundschaft verlangt. 

Was erwartest du von mir? Was soll ich deiner Meinung nach tun, um dir eine gute Reise im ÖV zu ermöglichen? Eine 100-prozentige Sicherheit ist nicht möglich. Das Sicherheitspersonal in den Bahnhöfen und in den Zügen tun ihr Bestes. Aber in gefühlten 99 % der Fälle sind sie nicht oder zu spät vor Ort. Wer aber da ist, sind (andere) ÖV Angestellte. Erwartest du von ihnen, dass sie die Jugendlichen zurechtweisen? Sollen sie dich vor dem Bettler schützen? Machst du sie für das Passivrauchen auf dem Bahnsteig verantwortlich? 

Wer ist für deine Sicherheit zuständig?

Auf, wen verlässt du dich im Strassenverkehr, damit du sicher ans Ziel kommst? Rufst du bei einem Verkehrsdelikt das Strassenbauamt oder die Polizei? Wer ist zuständig bei einem Parkschaden? Die Firma, welche die Parkfelder aufgemalt hat oder das Ordnungsamt?

Ich verstehe dich sehr gut, wenn du dich bei einer Bedrohung im ÖV an den nächsten Menschen in Uniform wendest. Kannst du aber auch nachvollziehen, dass ich nicht mein eigenes Leben aufs Spiel setzen will, wenn ich den Störenfried (höchstens) ermahne, aber nicht körperlich eingreife?

Im ÖV sind die Aufgaben zur Mehrheit klar umrissen. Die Sicherheit der Reisenden wird vom Sicherheitspersonal verantwortet. Andere Personen haben keine polizeilichen Aufgaben und Kompetenzen. Wir sind nicht dazu ausgebildet. Die Kurse, welche wir besuchen, dienen in erster Linie zum Selbstschutz. Denn die ÖV Mitarbeitenden im direkten Kontakt mit der Kundschaft werden oft verbal und manchmal auch körperlich angegriffen. 

Jetzt tue doch etwas

Bei meiner Arbeit treffe ich täglich unzählige Situationen an, in denen sich jemand egoistisch verhält oder Regeln bewusst missachtet. Er gefährdet dabei sich und sein Umfeld, und es ist oft pures Glück, dass nicht mehr Zwischenfälle passieren. 

Eltern lassen Kinder unbeaufsichtigt auf dem Perron mit dem Kickboard ihre Runden drehen. Wenn ich sie auf die Gefährlichkeit hinweise, erhielt ich schon die Antwort: "Es hat einen Helm an und ich passe auf. Was mischen sie sich überhaupt in meine Kindererziehung ein?" Sagt die Mutter, ohne von ihrem Handy aufzuschauen.

Auf Bahnhöfen besteht ein Bettelverbot. Wenn ich die alte Frau vor dem Billettautomaten davor beschütze, werde ich danach persönlich bedroht. Du Arschloch hast hier gar nichts zu sagen. Pass auf, wenn du mir das nächste Mal den Rücken zukehrst. 

Wenn ich mich jemandem in den Weg stelle, der durch die Unterführung rast, erhalte ich die Antwort: "Geh aus dem Weg du Pisser, ich habe es eilig und bremse nicht für Tiere."

Als ich auf dem Bahnsteig jemanden fragte, ob er wisse, dass hier Betteln verboten ist, schrie er mir ins Gesicht: "Pass auf, das nächste Mal, wenn ich dich sehe, schlage ich dich zu Tode."

Den Raucher, welchem ich die Raucherecke auf dem Bahnsteig zeigen wollte, meine zu mir: "Fick dich du fette Sau." Danach liess er die Kippe vor meine Füsse fallen. 

Das sind nur einige harmlose Beispiele, die ich erlebt habe. Mitarbeitende im ÖV (ob im Zug oder am Bahnhof) könnten diese Liste sicher bis zum "Geht nicht mehr" verlängern. 

Ich bin mir nicht mehr sicher

Ich bin hilfsbereit und wenn ich jemanden sehe, der bedrängt wird oder sich in Gefahr begibt, dann kann ich nicht schweigen. Auch wenn es nicht zu meinen direkten Aufgaben gehört, übernehme ich hier Verantwortung, die streng genommen nicht mir gehört. 

Wenn ich meine zunehmende Unsicherheit aber äussere, wird mir gesagt, dass ich mich nicht in Gefahr begeben muss, bei einem Angriff das Weite suchen und eine Videosicherung veranlassen soll. Eine Anzeige wird von Amtes wegen erhoben. Sie nützt mir aber wenig, wenn ich dafür eine Grenzüberschreitung erleben muss.

Ich verschliesse meine Augen

Meine psychische und physische Gesundheit ist mir wichtig. Darum konzentriere ich mich auf meine klar definierten Aufgaben und lasse alles andere aussen vor. Ich greife nur noch ein, wenn eine Gefahrensituation umgehend bevorsteht und ich mir sicher bin, dass ich mich dadurch nicht selber gefährde. Wird dadurch die Sicherheit im ÖV erhöht? 

Sicher nicht.


Vielen Dank an Pexels.com für das lizenzfreie Foto

Cover Image

Die kleinen Könige in der Arbeitswelt


In der Arbeitswelt kann der Begriff "kleiner König" verwendet werden, um eine Person zu beschreiben, die in ihrem Arbeitsbereich eine gewisse Macht oder Kontrolle hat, aber in der Hierarchie des Unternehmens eher eine untergeordnete Position einnimmt. Diese Person kann aufgrund von Fähigkeiten, Erfahrungen oder besonderem Fachwissen in ihrem Team oder ihrem Arbeitsbereich als Experte angesehen werden und dadurch eine gewisse Autorität und Einflussmöglichkeit haben.

In einigen Fällen kann dies positiv sein, da diese Person in der Lage ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, Lösungen zu finden und das Team voranzutreiben. Sie können beispielsweise in der Lage sein, technische Probleme zu lösen, die anderen Mitarbeitern Schwierigkeiten bereiten oder eine Führungsrolle innerhalb ihres Teams übernehmen, indem sie bei der Entwicklung von Strategien und der Umsetzung von Projekten helfen.

Jedoch kann der Begriff "kleiner König" auch negative Konnotationen haben, insbesondere wenn diese Person ihre Macht ausnutzt oder ihre Autorität missbraucht. Beispielsweise kann diese Person dazu neigen, Entscheidungen zu treffen, ohne andere Teammitglieder zu konsultieren, sich gegenüber Kollegen oder Vorgesetzten respektlos oder arrogant zu verhalten oder andere Abteilungen zu ignorieren, die in die Arbeitsprozesse involviert sind. In solchen Fällen kann der "kleine König" letztendlich das Team oder das Unternehmen schädigen und für Spannungen oder Konflikte sorgen.

Es ist daher wichtig, dass diese Personen lernen, in einer Weise zu arbeiten, die auf Zusammenarbeit und Konsens basiert, anstatt auf Dominanz und Kontrolle. Die Fähigkeit, effektiv mit anderen zusammenzuarbeiten, kann dazu beitragen, dass das Team als Ganzes besser arbeitet und das Unternehmen erfolgreich ist. In diesem Sinne sollte ein "kleiner König" in der Arbeitswelt ein Experte und ein wichtiger Bestandteil des Teams sein, aber dennoch respektvoll und kollegial mit anderen zusammenarbeiten, um das Gesamtergebnis zu verbessern.

Besten Dank, für das lizenzfreie Foto von Pexels.com

Cover Image

Du bist da zum Arbeiten, nicht zum Denken

Den Beitrag hören statt lesen, hier entlang

Überqualifiziert, der richtige Mensch am falschen Ort.

Was gefällt dir an deinem Job? Was hast du für einen Handlungsspielraum? Durch falsche Entscheide, fehlendem Ehrgeiz und unbeeinflussbaren Umständen, arbeite ich in einem Job, der meinen Fähigkeiten wenig entspricht.

Ich habe eine kaufmännische Lehre und über die Jahre zahlreiche Weiterbildungen in der Informatik und Administration abgeschlossen. Jetzt arbeite ich als Kundenassistent. Daneben erledige ich einige handwerkliche Arbeiten im Bereich Logistik. Es ist überhaupt nicht das, was ich gelernt habe. Trotzdem bin ich sehr dankbar, dass ich überhaupt noch arbeiten kann und darf.

Das geht dich gar nichts an, das hat dich nichts zu kümmern!

Neben meinen Aufgaben, interessiert mich auch, wie ich sie einfacher bewältigen kann. Was kann ich tun, damit meine Vorgesetzten und unsere Abteilung eine bessere Qualität abliefern können?

Dazu frage und hinterfrage ich (im konstruktiven Sinne) manchmal auch Prozessabläufe und Arbeitsmittel. Es passiert auch, dass ich dabei über das Ziel hinaus schiesse. Aber entgegen der Behauptung meiner mobbenden Chefin, ich sei lernresistent, weiss ich heute, wie ich (diplomatisch) besser vorwärtskomme.

Wenn ich einen Auftrag um einiges einfacher abwickeln könnte und mir das mit der Argumentation "Es ist so und fertig!" verboten wird, habe ich schon meine Fragen. Ist es so abwegig, dass jemand (ich) einen Entscheid besser mittragen kann, wenn er auch nachvollziehbar ist und verstanden werden kann?

Wenn ich an einem Aussenstandort mit der Arbeit fertig bin, gehe ich zum nächsten und warte nicht, bis die Zeit um ist. Der Hinweis, dass ich dazubleiben habe, bis ich gemäss Dienstplan weiterfahren kann, nehme ich zur Kenntnis, mehr aber auch nicht.

Es wird offensichtlich nicht gerne gesehen, wenn ich mich bei der Disposition erkundige, weil ich den Ansprechpartner für einen Auftrag nicht finden kann. Dass er auf einem anderen Dienstplan aufgeführt war und ich nicht geschaut habe, ist ganz klar mein Fehler. Aber den indirekten Vorwurf: "Mach deinen Teil der Arbeit, der andere hat dich nicht zu kümmern", empfinde ich als unfair.

Warum können Teamleiter häufig nicht damit umgehen, wenn Mitarbeitende sich anders verhalten, mitdenken und sich nicht wie sture Befehlsempfänger verhalten? In den Kreativabteilungen werden solche Eigenschaften gefordert und gefördert. Aber bei "einfacheren" Anforderungsprofilen, wird das teilweise gar nicht gerne gesehen. 

Einfache Arbeiter für einfache Arbeiten

Es braucht keinen Universitätsabschluss, um eine Toilette zu putzen. Eine Ausbildung zum Gebäudereiniger ist da hilfreicher. Wahrscheinlich wird sich auch selten jemand mit einem Medizinstudium als Reinigungsfachkraft bewerben. Die meisten Menschen, die "putzen", sind daher irgendwo im handwerklichen Bereich gross geworden. Was passiert aber, wenn sich trotzdem jemand mit einer anderen Ausbildung auf einen Job in der Reinigung bewirbt?

Früher war das nahezu unmöglich, heute schon eher. Bei der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, sind gerade Menschen über 50 genötigt, jede erdenkliche Beschäftigung anzunehmen. Ich wurde z. B. aus meinem Job im technischen Support rausgeekelt und rausgemobbt. Nun arbeite ich in genau dieser Abteilung, für die ich vorher als Fachspezialist zuständig war.

So kommt es öfters zu Situationen, in denen ich die Ursache der Störung erkenne und diese so melde. Eigentlich wäre die naheliegende Antwort: "Danke für die Meldung, wir werden das Problem beheben." Stattdessen sagt man mir: "Du bist nicht mehr im Support, du hast nicht die Kompetenz, eine Fehleranalyse abzugeben."

Je nach GAV (Gesamtarbeitsvertrag) sind Kündigungen nur unter bestimmten Umständen möglich. Darum entscheidet sich die Abteilungsleitung, eine Reorganisation durchzuführen. Alle müssen sich auf ihre Jobs neu bewerben und wer man nicht mag, fliegt raus. Falls du nicht auf deine angestammte Stelle gewählt wirst, musst du annehmen, was noch übrig bleibt. So kann es vorkommen, dass in grösseren (bundesnahen) Betrieben Menschen Aufgaben erfüllen, die nicht ihren Fähigkeiten entsprechen. 

Ich denke, also bin ich

Warum haben Menschen (wie ich) mit einer Ausbildung, die nicht der Arbeit entspricht, Mühe ihren Platz in einem neuen Arbeitsteam zu finden? Warum werden Rückmeldungen, Ideen und Vorschläge als Angriff empfunden? Ich glaube nicht, dass jemand an einer neuen Arbeitsstelle als Erstes das ganze Team auf den Kopf stellen will. Wie weit wird mir ein Platz freigemacht oder mir zugeteilt? Muss ich mir das Vertrauen der Teamkolleg*innen erst erarbeiten oder sind sie bereit, mich einfach so wie ich bin in ihre Gruppe aufzunehmen?

Ich bin hochempfindsam und nehme meine Umgebung und Menschen viel intensiver wahr. Meine Filter und Abgrenzung funktioniert nicht wirklich gut. Darum hinterfrage ich mich ständig, ob meine Eindrücke stimmen, oder ob ich sie zu stark verarbeite. Früher hat mich nie gekümmert, wie ich auf andere wirke, heute tue ich das meistens sehr bewusst. Ich will doch nur von allen geliebt werden. Hoffentlich falle ich in der Gruppe nicht auf, weder positiv noch negativ. 

Durch meine Gedanken, wie ich mich selbst optimieren kann, überlege ich mir auch, wie ich meine Arbeitsabläufe optimieren kann. Das kommt auch von meinem analytischen und vernetzten Denken. Etwas, was bei manchen Stellen explizit erwünscht ist und bei anderen weniger vorkommt. Wenn Menschen damit weniger umgehen können, kann es zu Sprüchen kommen wie: "Du bist da, um zu Arbeiten und nicht um zu Denken." Aber ich kann nicht aufhören zu denken, sonst bin ich Tod. Ich will mich weiterentwickeln und lernen. Darum werde ich immer über den Tellerrand schauen.

Ich greife doch gar nicht an - oder vielleicht doch?

Dass Menschen nicht mehr in ihren angestammten Berufen, aber trotzdem noch in der gleichen Firma arbeiten, kommt wohl eher in grösseren Betrieben vor. Aber wie kann das gut gehen? Was braucht die Führungsperson, was braucht das Team, welches eine solche Person  "mit höherer Bildung" aufnehmen darf oder muss?

Die klassenlose Gesellschaft ist, mit Ausnahme der israelischen Kibbuze, eine Utopie. Selbst im Kommunismus gab und gibt es höhere und tiefere Angestellte. Das ist heute auch noch so. Berufe, für die es ein Studium braucht, sind besser angesehen und besser bezahlt als das Handwerk. Auch wenn wir es uns vornehmen, wir werden immer in Schubladen denken. 

Mein Teamleiter hat nicht die gleiche Ausbildung wie ich. Kann es sein, dass er sich durch meine Fragen und Rückmeldungen bedrängt oder sogar in seiner Position bedroht fühlt? Ist es möglich, dass er Angst hat, das Gesicht zu verlieren, wenn ich "wage" ausserhalb unserer Abteilungen zu agieren? Meine Mutmassungen sind sehr persönlich und ich weiss nicht, ob und wie ich in fragen soll. Mir liegt es fern, ihm seinen Platz streitig zu machen. Ich will doch nur, dass er, dass unser Team gut dasteht. Dass mir dabei auch mal Fehler passieren, ist wohl eher eine Bestätigung, dass ich mich voll und nur auf meine Aufgaben fokussieren soll. (Wie ein Befehlsempfänger).

Lösungsansätze: Ist es sinnvoll, bei einem neuen Mitarbeitenden eine Vorstellungsrunde im Team durchzuführen? In der kann die neue Person sich, wie sie denkt und fühlt, den anderen näher bringen. Meistens passiert das nur mit der Teamleitung. In einer solchen Situation werde ich zukünftig diese Gelegenheit nutzen, um der Führungsperson zu zeigen, wie ich ticke. Ich werde schon dann von meiner Hochempfindsamkeit sprechen und nicht erst, wenn sie zu einem "Zusammenstoss" führte. 

Besten Dank für das lizenzfreie Foto von Pexels.com

Cover Image

Jesus hat keine Antwort

Jesus ist die Antwort für die Welt von Heute

Was geht dir durch den Kopf, wenn ein Redner sagt: "Jesus will dich heilen, komm zu ihm und du wirst es erfahren." Bist du offen, für deine übernatürliche Heilung? Gott hat Corona besiegt, in seinem Namen sei geheilt. In Amerika gibt es eine grosse Anzahl von (reichen) TV Evangelisten und Christen, die so und noch extremer argumentieren. Wenn du nicht geheilt wirst, sind die Standardantworten, dass du zu wenig glaubst oder dass noch Sünde in deinem Leben ist. Kostprobe gefällig? Die findest du (in Englisch) hier.

Obschon es haarsträubend ist, was in Amerika alles unter dem Deckmantel evangelikal und charismatisch läuft, gibt es Ähnliches auch hier in der Schweiz und sogar in meinem Nachbardorf. Da behauptet ein Heilungsevangelist: Wer die Bibel in einem kindlichen Glauben liest, dann sehen wir, dass Zeichen und Wunder zum christlichen Alltag dazugehören, sonst ist das kein normales Christentum. Mit anderen Worten, wer die Bibel liest und es passieren keine Wunder (Heilungen) in seinem Leben, der ist kein richtiger Christ (Quelle Livenet-Talk).

Warum müssen Hilfesuchende mit einem Wunder überredet werden, an Gott zu glauben? Warum braucht es perfekt inszenierte Shows oder eine Lowbudget Evangelisation, bei der die übernatürlichen Wunder so betont werden? Ohne Heilung kein Glaube könnte man meinen. Obschon in der Bibel sehr wohl von Versagern die Rede ist höre und lese ich in den Medien praktisch ausschliesslich über die Erfolge des christlichen Glaubens.

Der Glaube darf nicht versagen. Darum müssen wir in allem Leid Gottes Güte und Sieg sehen. Auch wenn es uns noch so verschissen, geht, Gott einen Plan. Ich kenne den Gründer vom Zwischenraum persönlich. Er hat mir erzählt, dass er praktisch 30 Jahre um Heilung von der Homosexualität gebetet hat und es ist nichts passiert. Hat er zu wenig oder zu wenig lang gebetet? War er nicht aufrichtig genug? Warum wurde er nicht geheilt?


Keine Antwort ist oft die bessere Antwort

Als ich mich zum christlichen Glauben bekehrte, war ich in einer Lebenskrise. Ich überschüttete den Helfer an der Evangelisation von Fredy Staub mit meinen Lebensfragen. Auf alle wusste er bzw. Jesus eine Antwort. Meistens waren es jedoch Floskeln. Dass ich nach meiner Hinwendung zu Jesus viele Jahre von Zweifeln und Depressionen zerfressen wurde, weil bei mir der Glaube nicht klappte und ich keine Heilung und Wunder erlebte, ist ein anderes Thema.

Jesus hat vielleicht nicht auf alles eine Antwort. Seine Jünger aber schon.

Danke für das lizenzfreie Foto von Pexels.com

Cover Image

Ich glaube an Gott und nicht an die Gemeinde

Frage Gott hinterfrage nicht die Church

Was kommt ihnen bei dem Begriff Freikirchen in den Sinn? Was denken sie über Sex vor der Ehe und der Abgabe von 10% des Einkommens an die Gemeinde? Ich glaube an einen lebendigen Gott, und dass Jesus für uns den Tod am Kreuz auf sich nahm. Den Glauben an ein christliches, konservatives Weltbild, geprägt von Bibelauslegungen und den eng definierten Strukturen, habe ich verloren.

Ich bin kein Aussteiger und habe mich nicht von meinem Glauben abgewendet. Über 20 Jahre bewegte ich mich im christlichen Kuchen und habe mich von ihm ernährt. Manche Stücke schmeckten mir hervorragend. Bei anderen habe ich mich gefragt ob die Rezepte auch gesund sind. Je mehr ich mich mit der Zusammensetzung, Aufbau und Struktur meiner Ernährung beschäftigte, merkte ich, dass dieser Kuchen oder Teile davon, mich krank machen.

Glaube und vertraue, sind Wörter, die man in vielen Predigten hört. In meiner Kindheit habe ich verschiedenartige Grenzüberschreitungen erlebt. Darum gibt es bei mir kein blindes Vertrauen mehr. Wenn ich einer christlichen Autoritätsperson glauben soll, dann will ich auch fragen und hinterfragen können. Doch das wird in christlich konservativen Kreisen, (wie auch in Sekten) gar nicht gerne gesehen:

„Ich spüre bei dir einen Geist der Rebellion. Meinst du wirklich, Gott hat Freude daran, wie du über ihn denkst?“ Im Klartext heisst das: Du hast mich als Leiter der Gemeinschaft ohne Wenn und Aber zu respektieren. Wenn du das nicht willst, entsprichst du nicht mehr meinem Bild eines gläubigen Christen.

Das sind meine persönlichen Erlebnisse. Die aufgeführten Beispiele habe ich so erlebt, oder kenne sie aus erster Hand und nicht vom Hören Sagen. Ich spreche nie über „alle“ gläubigen Christen, und bemühe mich, nicht alle in einen Topf zu werfen. Mein Ziel ist, ungesunde Grundlagen, Strukturen und Mechanismen von christlichen Gemeinschaften und Freikirchen zu erläutern. Es gibt viele Situationen in diesem System, wo gläubige Menschen manipuliert und missbraucht werden können. In einige bin ich hineingeraten. Herauszukommen hat mich sehr viel gekostet.

Jesus löst all deine Probleme

Lange Zeit war dieser Spruch das Hauptargument, um Menschen zu bekehren. Jugendliche haben es nicht leicht. Das Erwachsenwerden ist schwierig und wird es immer sein. Wenn jemand voll Eifer und mit einem übersteigerten Sendungsbewusstsein von einer Lösung für alle Probleme spricht, lassen sich viele Teenies mitreissen. Das dem nicht so ist, erfahren sie spätestens, wenn die sorgenvolle Mutter gar nicht zufrieden ist, dass es bei der Evangelisation länger gedauert hat als mit ihr vereinbart.

Ein grosser Teil der Menschen, die sich für den christlichen Glauben entscheiden, erhalten dadurch ein Fundament und Halt, der sie trägt. Sie haben ihrem Leben einen Sinn gegeben. Es gibt aber auch die, welche an ihrem Glauben scheiterten. Sie brachten es nicht fertig, so zu leben, wie es in der Bibel steht und vom Pastor gepredigt wird. Vor den Augen des härtesten Gerichts der Welt, den christlichen Brüdern und Schwestern, wurden sie immer wieder schuldig gesprochen.

Von diesen Schicksalen hört und liest man nichts. Auf den christlichen Medienportalen reihen sich Wunder an Wunder. Der Glaube muss eine einzige Erfolgsgeschichte sein. Jesus heilt von allen möglichen Krankheiten und bewegt Menschen ihren ungesunden Lebensstiel zu ändern. Alkohol, Drogen, Missbrauch alles kann er heilen. Ich glaube an Wunder. Stutzig werde ich jedoch, dass ich selten von jemandem höre, bei dem es nicht funktioniert hat. Offensichtlich darf der Glauben nicht versagen. Wenn von Problemen und Scheitern gesprochen wird, dann nur wie, sie überwunden werden konnten. Versagen existiert im christlichen Wortschatz nicht.

Als ich einen Leiter einer Gemeinschaft fragte ob, es in seinem Leben eine Situation gegeben hat, in der er sich nicht auf seinen Glauben stützen konnte, erhielt ich Bibelstellen und keine Antwort. Das Burnout des Predigers hat ihn innerlich wachsen lassen. Das, obschon er bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt aussah, als springe er von der nächsten Brücke. Die frisch verheiratete und bekehrte Frau hatte im Glauben all ihre Medikamente abgesetzt, denn Gott ist jetzt ihr Arzt. Ich wunderte mich nur, dass sie selbst auf mich als Laien, einen psychisch labilen Eindruck hinterliess.

Auch wenn heutzutage immer weniger vom Problemlöser gesprochen wird, Jesus ist noch immer die Antwort auf alle Fragen des Lebens. Wenn sie im Gebet von Gott nicht beantwortet werden, übernimmt das sehr gerne ein Gemeindemitglied, Seelsorger oder Pastor. Sie sind die Spezialisten für meinen finanziellen, sexuellen und existentiellen Probleme.

Überzeugte Christen, die keine Antwort wissen und sich nicht mit einem passenden Bibelzitat aus der Situation zu retten versuchen, gibt es aus meiner Sicht immer noch zu wenig. Auf mich hinterlässt es aber einen grösseren Eindruck, wenn ein Mann Gottes kapituliert, als wenn „Jesus all deine Probleme löst.“

Der Mensch denkt – der Pastor lenkt

Ein feuriger, motivierender und mitreissender Pastor zieht Massen in seinen Bann. Seine Worte werden als Podcast aufgenommen und persönlich notiert. In der nächsten Woche wird die Predigt in den Hauskreisen erörtert. Man diskutiert, wie wir gemeinsam dem vorgegebenen Ziel näherkommen. Thema ist, wie man das Gehörte umsetzen kann, aber sicher nicht, ob er mit seiner Ansicht richtig lag.

Wir müssen uns dem Gemeindeleiter unterordnen, denn das ist ein biblisches Prinzip. Er geniesst unser uneingeschränktes Vertrauen. Seine Worte sind alle zu 100% biblisch begründet. Es ist wie

Gott durch seinen Mund zu uns spricht. Fragen zu den Beweggründen, warum er genau zu dem Schluss gekommen ist, sind verpönt. Seine Bibelauslegung zu hinterfragen ist verboten. Als rechtschaffenes Mitglied habe ich gar keine andere Wahl, als dieser einen Person zu glauben.

Wenig Christen setzen sich mit der Bibel auch kritisch auseinander. Meistens bleibt es bei einer täglichen Bibellese, mit Hilfe eines Leseplans. Das ist grundsätzlich nicht schlecht und für viele eine Bereicherung. Durch sein „hauptberufliches Bibelstudium“ ist aber der Pastor im entscheidenden Vorteil. Er hat sich länger und intensiver mit dem Wort Gottes auseinandergesetzt. Darum fällt es vielen Gottesdienstbesuchern leicht, seine Predigt 1:1 zu verinnerlichen, als eine eigene Ansicht zu übernehmen.

In charismatischen Gemeinschaften wird auf das „Gott erleben“ einen grösseren Wert gelegt als auf das Bibelstudium. Oft dient als Gottesdienstgrundlage ein oder zwei Verse. In Ausnahmefällen, wird noch in ein paar Sätzen, das damalige Umfeld beleuchtet. Was danach folgt ist ein Erlebnisbericht vom Pastor.

Einmal hörte ich eine dreiviertel Stunde zu, wie er auf der Fähre nach Sardinien eine Windhose beobachtet hat, in der sich ihm am Ende Gott offenbart hat. Komischerweise schien bei einem anderen Prediger an zwei verschiedenen Besuchen die Sonnenstrahlen genau auf unsere Stadt. Dass beim zweiten Mal das ganze Mittelland bedeckt war, ist ein anderes Thema.

Das sind zwei harmlose Fälle. Was ist aber, wenn über Finanzen gepredigt wird, und sich dadurch jemand gedrängt fühlt, mehr zu geben, als eigentlich sinnvoll für ihn ist? Entspricht es auch dem Willen Gottes, dass er dadurch in Zahlungsrückstand gerät? Ein amerikanisches Beispiel gefällig? Bitte schön:

Ein amerikanischer Pastor erklärte im Gottesdienst, wie er das „Homosexuelle Problem lösen wolle. Er sperrt Schwule und Lesben in zwei getrennte umzäunte Felder und werfe ab und zu etwas Essen ab. Seine Respektlosigkeit ist das Eine. Noch viel schlimmer war für mich, dass einige seiner Gemeindemitglieder seine Aussage mit „Yes Preacher“ beantworteten.

„Ich gebe nur Denkanstösse. Was die Gottesdienstbesucher daraus machen, ist ihre Sache.“  Mit solchen und ähnlichen Ausreden stehlen sich die Diener am Wort oft aus der Verantwortung. Dabei missachten manche bewusst, dass zwischen dem Gemeindemitglied und dem Pastor ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Es ist nicht einfach ein Vortrag, bei dem der Besucher selbst entscheiden kann, was auf seine Situation zutrifft und was nicht. Menschen in seelischen Nöten gibt es, wider Erwarten, viele in den Gemeinschaften. Oft haben sie jede Objektivität verloren und setzen in ihrer Situation alles und ich meine wirklich alles auf den Glauben. Der Verstand wird dabei ausgeschaltet.

Denn wenn der Pastor sagt, dass man wirklich alle Bereiche seines Lebens ihm (bzw. Gott) übergeben muss, dann tut man das. Hinterfragen und dem Prediger kritische Fragen stellen ist nicht gern gesehen und verpönt. Die Gemeindeleitung ist von Gott eingesetzt. Kritisiert man sie, dann kritisiert man Gott direkt.

Die Auslegung des Predigers sind gleichzusetzen mit dem Wort Gottes. Wenn er das Massaker in einem Club für Homosexuelle in Orlando als gerechte Strafe Gottes bezeichnet, dann spricht er im Namen des Herrn. Ich behaupte mal, die meisten Prediger sind sich ihrer Macht sehr wohl bewusst. Ihnen liegt das Wohl der Gemeinde so am Herzen, dass sie ihren Schäfchen gerne ein bisschen nachhelfen, und sie gezielt in die eine oder andere Richtung lenken.

Die Predigt – eine unendliche Erfolgsgeschichte

Hand aufs Herz, haben sie schon einmal eine Predigt gehört, bei der es um das Versagen oder Scheitern ging, das am Schluss nicht überwunden wurde und sich in Luft aufgelöst hat? Wenn ich ehrlich bin, erlebe ich mehrheitlich Rückschläge, ich versage täglich und scheitere stündlich. Viele dieser Erlebnisse bleiben, was sie sind, ein Scheitern. Ich kann nicht nachvollziehen, warum in gefühlten 120% der Gottesdienste nur Erfolgsgeschichten erzählt werden.

Es wird ein Problem thematisiert, das der Pastor vor langer Zeit einmal hatte. Garniert mit ein paar Bibelsprüchen wird nun den Gottesdienstbesuchern suggeriert, dass auch sie in ihrem Leben damit zu kämpfen haben. Danach werden das Elend und die Verzweiflung möglichst bedrohlich ausgemalt. Am Schluss kann man für sich beten lassen. Nach dem letzten Song haben alle im Raum das Problem des Pastors in ihrem Leben erkannt und überwunden.

Als ich einen Leiter fragte, ob er auch mal versage und erlebe, dass Gott ihm nicht geholfen hat, erhielt ich eine Antwort, die jeden Politiker geehrt hätte. Ich bekam Ausflüchte, Durchhaltesprüche und eine Aufzählung wo überall Jesus siegte zu hören. Ehrlichkeit tönt meiner Meinung anders.

Misserfolg, Scheitern und eine längere Zeit am Boden liegen haben in vielen christlichen Gemeinschaften keinen Platz. Wenn, dann nur mit dem Spruch: „Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, weiter gehen.“ Denn wenn ich versage, versagt mein Glaube und dann versagt Gott. Das darf und kann nicht sein. Gott nimmt uns zwar an so wie wir sind, die Gemeinde will uns trotzdem zu einem besseren Menschen machen. Egal ob wir wollen oder nicht.

Gott nimmt uns an so wie wir sind – nicht die Gemeinde

Menschen die neu in eine Gemeinde kommen wird in den schönsten Farben beschrieben, wie Gott sie annimmt, egal was sie getan haben oder wie sie sich fühlen: „Er nimmt dich an, genauso wie du bist“. Sobald jemand regelmässig zu den Veranstaltungen kommt und wenn er sich sogar noch bekehrt, muss er so geformt werden, dass er dem Bild eines gläubigen Christen entspricht. Nach meinem Verständnis sollte, das durch den Glauben und die Beziehung zu Gott geschehen. In der Praxis übernehmen aber die Gemeindeleitung und die Brüder und Schwestern im Herrn noch so gerne diese Aufgabe.

Nachdem die Menschen vor Gott geführt wurden, dreht sich der Wind und er bläst ihnen direkt ins

Gesicht. Jetzt wird fein säuberlich aufgeführt, was wir alles verändern müssen, damit wir dem

Willen Gottes – oder besser der Gemeinde – entsprechen.  Wir alle wissen, dass Jesus der einzige Mensch ohne Sünde war, und trotzdem wird von den Gläubigen erwarten, dass sie das auch anstreben.

Es gibt unzählige Sünden. Neben den strafrechtlich relevanten Vergehen ist deren Definition aber sehr individuell. Die einen nehmen die Bibel wortwörtlich. Dass viele Bibelstellen durchaus Raum zur Interpretation offenlassen, wird ignoriert. Genauso wie sie den Text verstehen, entspricht dem Willen Gottes und ist somit allgemeingültig.

Eine Bekannte pflegte eine Beziehung zu einem damals verheirateten Mann. Vom Hauskreisleiter wurde ihr nahegelegt, sie zu beenden, denn das sei nicht Gottes Wille und werde in der Bibel als Sünde bezeichnet. Das sagte er zu einer Frau, die sich erst frisch mit dem christlichen Glauben befasst. Auf ihre Frage: Ich liebe diesen Mann und kann meine Gefühle nicht einfach abstellen, wusste der Leiter keine Antwort. Im Gegenteil, für seine biblisch konservative Argumentation holte er sich extra Schützenhilfe vom Gemeindeleiter. Die Bekannte wurde aus dem Hauskreis geworfen. Dann wenn sie die Unterstützung am meisten gebraucht hätte.

Ein homosexueller Mann hat es buchstäblich innerlich zerrissen. Er suchte einen Ausweg aus seiner unerträglichen Lebenssituation. Er war der Überzeugung, ihn im christlichen Glauben gefunden zu haben. Er wurde vom Seelsorgeteam und dem Gemeindeleiter so in die Mangel genommen, dass die vermeintliche Lösung für seine Probleme, diese nur noch verschlimmerten. Der Pastor sprach vor der versammelten Gemeinde sehr abfällig über ihn, als den armen sündhaften Schwulen.

Die sexuelle Veranlagung thematisiere ich ganz bewusst nicht. Wohl aber den respektlosen, menschenverachtenden Umgang innerhalb von christlichen Gemeinden. Passt jemand nicht zu 120% in das gepredigte Glaubensschema, ist er ein Störfaktor und muss sich anpassen, oder er wird voller christlicher Nächstenliebe aus der Kirche geekelt.

Die Bibel – das Schwert Gottes und die Axt der Menschen

In der Bibel steht… dann folgt meistens eine wahllose Ansammlung von Versen, um die Verurteilung eines „geliebten“ Mitmenschen zu rechtfertigen. Wenn man eine Aussage gefunden hat, die nicht dem eigenen Bibelverständnis entspricht, ist das ein Freipass, um loszuschlagen.

In meiner Zeit in einer Lebensgemeinschaft wurde ich behandelt, als hätte ich eine Todsünde begangen. Warum – weil ich mir am Sonntagabend erlaubt habe meine Arbeitskleider für den Montag zu waschen. „In der Bibel steht, dass der 7. Tag dem Herrn gehört. Da liegt Waschen nicht drin, denn das verstösst gegen das Wort Gottes.“

Diese Moralpredigt des Leiters habe ich noch einigermassen gut überstanden. Aber was ist mit Menschen, denen geraten wird, sich scheiden zu lassen, weil der Partner nicht die gleiche Glaubensrichtung teilt?

Eine gute Freundin, fuhr in die Ferien und schlief neben und nicht mit ihrem Freund im gleichen Zimmer. Darauf wurde sie der Hurerei bezichtigt.

Wie ergeht es Leuten, denen das Verderben oder den Tod gewünscht bzw. prophezeit wird? In der Bibel steht… und das was nachher folgt, hat oft nichts mit Respekt, Anstand und Wertschätzung gemeinsam. Die Bibel als Rechtfertigung missbraucht zu kritisieren, verurteilen und zu verdammen. Dieses Buch wird wie eine Streitaxt geführt, um Mitmenschen wieder auf den vermeintlichen Weg des Herrn zurückzuschlagen.

Die Bibel ist selten so glasklar und eindeutig, wie viele selbsternannte christliche Glaubenswächter das vielleicht gerne hätten. Wenn man mit ihnen über ihre Argumente diskutieren will, beisst man aber auf massiven, praktisch unzerstörbaren Granit. Die Bibel ist das Wort Gottes und somit unfehlbar. Die Bibel muss ohne Abstriche 1:1 in die heutige Zeit übernommen werden.

Die wenigsten von uns haben Theologie studiert. Aber wer die Schule besuchte, hatte sicher auch Geschichtsunterricht. Es würde niemandem einfallen, ein Buch über Erziehung aus dem 18 Jahrhundert Heute Wort für Wort anzuwenden. Die Menschen, ihr Umfeld, die Welt verändert sich. Dem wird Rechnung getragen. Nicht so mit der Bibel.

Es gibt zig Abhandlungen, Interpretationen und Auslegungen über die Bibel. Selbst unsere Reformatoren waren sich öfters nicht einig, wie gewisse Texte zu verstehen sind. Trotzdem sind viele Christen mit konservativem Bibelverständnis der Meinung, nur so wie sie oder besser ihr Prediger die Texte interpretiert, ist der einzig richtige Weg, der Gottes Willen entspricht.

Besonders darunter zu leiden haben homosexuelle Christen. Die paar wenigen Bibelstellen, die sich übrigens alle an verheiratete Männer richten, werden als Rechtfertigungen genommen, um auf schwule und lesbische Menschen zu schiessen. Dass ihnen abgesprochen wird, Christen zu sein ist noch die harmloseste Verurteilung. Die unzähligen SittenwächterInnen in den Gemeinden sind sich nicht bewusst, was für einen seelischen Schaden sie anrichten. 98% ihrer Opfer wenden sich vom Glauben ab und nicht wenige werden in den Selbstmord getrieben. All das wegen ein paar Bibelstellen, die selbst namhafte Theologen kontrovers diskutieren.

Die allgemeine christliche Norm ohne Ausnahmen

Das Ziel jeder Leitung ist, einer Gemeinde vorzustehen in denen die Menschen ein Leben nach dem Willen Gottes führen. Wie das genau auszusehen hat, ist ganz unterschiedlich. In einer pfingstlich geprägten Freikirche ist z.B. das Sprachengebet zentral. Wenn jemand keine Taufe im heiligen Geist erlebt hat, gerät er manchmal auf die Liste der potenziellen Seelsorgekandidaten.

Ganz sicher ins Visier der selbsternannten Sitten- und Glaubenswächter (die es in jeder Gemeinde gibt), geraten Menschen, die auffallen und nicht der üblichen Gruppennorm entsprechen. Kleiden sie sich vielleicht nicht so, wie es die Ältesten wünschen, haben sie ein Suchtproblem oder sind mit der Gemeindeleitung öfters mal nicht einer Meinung, ist die nächste Seelsorgeberatung bereits gebucht.

Beschliesst ein Homosexueller, sich nicht mehr zu verstecken und offen zu seinem Partner zu stehen, wird er meist umgehend aller Ämter enthoben. Man stellt ihn vor das Ultimatum, sich therapieren zu lassen, oder er verliert seine Stellung in der Gemeinde. Er wird verurteilt, als hätte er ein Kind missbraucht. Schlägt eine Mutter ihre Kinder oder werden sie vom Vater psychisch gequält wird das oft lange nicht entdeckt, denn diese Sünden passieren im Verborgenen.

Es gibt Gemeinden, die sind vom einzelnen Gläubigen bis zum Gemeindeleiter streng hierarchisch durchorganisiert. Der Hauskreisleiter ist zugleich der Seelsorger seiner Gruppe. Seine

Betreuungsperson ist wiederum der Koordinator der einzelnen Kreise usw. Die Hauskreisleiter sind eins sehr wahrscheinlich nicht, Fachpersonen. Im Gegenteil, meistens sind das motivierte

Christen, die nichts Böses wollen aber oft Böses anrichten. Für mich ist eine gesunde

Vertrauensbasis in einer Gruppe nicht möglich, wenn der Leiter teilweise intimste Probleme von seinen Teilnehmenden kennt.

Warum mischen sich aber so viele Christen in mein Leben ein und wollen mir vorschreiben, wie genau ich zu glauben habe? Als ich mich gewagt habe, meine Beziehung zu Gott über die zum Leiter der Lebensgemeinschaft zu stellen, wurde ich behandelt, als sei ich vom Glauben abgefallen. Oft wird blinder Gehorsam und Unterwerfung gefordert. Jeder kleinste Gedanke, der nicht der allgemein christlichen Norm entspricht, wird als Rebellion gegen Gott bzw. die Leiterschaft gewertet.

Seelsorgenachschub

Ist man einmal zu einem möglichen Seelsorgekandidaten geworden, wird man bearbeitet, bis man sich beseelsorgen lässt oder geht.

Weil ich am alten Wohnort mich in der Jungscharleitung investiert habe, ging ich davon aus, dass meine Mitarbeit auch in der Gemeinde erwünscht ist. Eigentlich schon – aber doch nicht so ganz. Dem Prediger reichte nicht ein (längeres) Gespräch um mich näher kennen zu lernen. Nein, er entschloss sich, mich in die Seelsorgemangel zu nehmen.

Ich behaupte, eine grosse Anzahl ist mit dem christlichen Glauben, wie er von den Gemeinden definiert wird, überfordert. Auf der einen Seite sind wir alle Sünder, auf der anderen Seite wird uns gepredigt, was alles ein richtiger Christ tut und was er zu lassen hat. Wenn jemand z.B. noch niemanden bekehrt bzw. zum Glauben geführt hat, erfüllt er den Missionsbefehl nicht.

In dieser inneren Zerrissenheit wenden wir uns an Menschen, die uns im Glauben weiterhelfen können. Das ist meistens ein Seelsorgeteam. Das sind Leute, die sich zu diesem Dienst berufen fühlen. Meistens haben sie 1 – 2 christliche Seminare besucht. Einige haben vielleicht eine der zahlreichen Lehrgänge absolviert. Trotzdem versuchen sie sich als Hobbypsychologen.

Seelsorger oder Seelsarger

Seelsorge hat durchaus ihre Berechtigung. Es tut gut, wenn wir uns über den Alltag austauschen kann und was uns beschäftigt. Auf Augenhöhe und im gegenseitigen Respekt macht das Sinn. Das Gleichgewicht wird aber immer heikler, je grösser der Unterschied zwischen den zwei Personen wird. Der Hauskreisleiter oder ein älteres Gemeindemitglied befinden sich automatisch in einer stärkeren Position. Motivation und Berufung reichen meiner Meinung nicht aus, um in solchen Gesprächen den nötigen Abstand und Distanz zu wahren.

Weil ihnen das nötige Fachwissen fehlt, nehmen viele Seelsorger hauptsächlich die Bibel als Grundlage. Das ist nicht per Definition falsch aber oft wenig hilfreich. Wie fühlt sich ein Opfer von sexuellem Missbrauch, wenn es in der Seelsorge als eine der ersten Sätze: „Du musst vergeben!“, vor den Kopf geknallt bekommt? Hilft, „dein Körper ist der Tempel Gottes“ einem Mädchen, dass sich ritzt?

Ich hatte es nicht einfach im Leben. Als es besonders hart wurde. Schrieb ich dem Gemeindeleiter einen Brief in Form meiner Todesanzeige. Seine lapidare Antwort war: „Du gehst nicht kaputt, du gehst heil.“ Darauf forderte er mich auf, niederzuschreiben was mich alles bedrückt und beschäftigt. In der Meinung, dass am nächsten Mal nun konkret über meine Zweifel und Abgründe gesprochen wird, bekam ich nur die Antwort: „Es ist gut konntest du das mal aufschreiben.“ Das war alles.

Den Hinweis: „Je nach Situation verweisen wir Hilfesuchende an Fachpersonen“ habe ich bis jetzt nur bei einer Gemeinde gefunden. Das heisst nicht, dass alle anderen fachliche Unterstützung ablehnen. Meistens wird aber zu lange gewartet. Psychische Erkrankungen oder Traumatas wegen Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch müssen zwingend von ausgebildeten Fachpersonen behandelt werden. Wer Straftaten nicht anzeigt, macht sich meiner Meinung genauso schuldig wie die Täter. Ich behaupte, dass in der christlichen, biblischen Seelsorge viele Hilfesuchende noch stärker traumatisiert als „geheilt“ werden.

Die Gemeinde ist mehr als ein Verein

Von 1984 – 2015 war ich in verschiedenen Freikirchen aktiv mit dabei. Von konservativen bis zu charismatischen Gemeinden habe ich ziemlich viele Unterschiede erlebt. Kaum unterschieden hat sich aber die rechtliche Struktur der Gemeinden. Alle waren als Vereine konstituiert. Die Demokratie beschränkte sich aber meistens auf die Hauptversammlung. Im Alltag werden sie in der Regel von einem oder mehreren Pastoren praktisch autokratisch geführt. Als Kontrollgremium oder besser Rückendeckung erhalten sie einen Ältestenrat. Der besteht aber in den meisten Fällen aus Menschen, die der Gemeindeleitung wohl gesonnen sind. Alle anderen Dienste der Kirche sind den Pastoren meistens streng hierarchisch untergeordnet und zum absoluten Gehorsam und Rechenschaft verpflichtet. 

Es kontrolliert niemand, ob sich die Leitung ethisch und moralisch korrekt verhält. Die Basis bildet der Glaube, die Grundlage die Bibel und das Vertrauen auf Gott und in Menschen die sich als Christen bezeichnen.

Dazu passt auch, dass ein Gemeindeleiter seine Jünger in innere und äussere Zirkel organisierte. Ein Vorgehen, dass eher von der Freimaurer Loge bekannt ist. In der Regel sind die Gemeindeleitung und der Ältestenrat „nur“ Gott zur Rechenschaft verpflichtet. Die Gemeindeleitung ist von Gott eingesetzt und Gott bzw. die stellt man darum nicht in Frage.

Unter einem lebendigen Glauben verstehen vor allem Freikirchen, dass man sich zu 120% Gott hingibt. Obschon seit der Reformation Menschen direkt mit Gott sprechen können, spielt die Gemeinschaft und ihre Leitung eine entscheidende Rolle. Sie wollen bis ins Schlafzimmer ihrer

Mitglieder bestimmen können, wie diese zu leben haben. So etwas versteckt man hinter der Floskel: „Wir lassen uns in Leben reden“. Direkte Verbote werden selten ausgesprochen, man merkt aber sehr gut, was erwartet wird, wenn man sich zu der Gemeinde zählt.

Eine Freikirche ist mehr als ein Verein. Es geht nicht darum, welche Lieder am nächsten Konzert gespielt werden oder welcher Trainer die Mannschaft führen soll. Wenn ich die Predigten höre, gehe ich davon aus, dass der christliche Glaube mich freisetzen soll. Mit ihm als Grundlage, gelingt mir ein erfülltes Leben. Oft erhalte ich aber einen komplett anderen Eindruck.

Gefangen im oder befreit vom System

In den christlichen Gemeinschaften nehmen viele Leiter ihre Verantwortung ernst. Sie wollen nur das Beste für ihr Umfeld. Doch wo hört die Ermutigung auf und fängt die Manipulation an? Was ist zerstörende Kritik und was echte Lebenshilfe?

Ich persönlich kenne Christen, die mit beiden Beinen auf den Boden stehen. Menschen, die ohne abzuheben durchs Leben gehen. Gläubige, die ihrem Gegenüber in Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Ein paar haben genügend Selbstvertrauen und Lebenserfahrung, dass sie in den Gemeinschaften nicht untergehen. Die meisten aber haben sich von ihren Gemeinden verabschiedet.

Fragen zum Hinterfragen

Was denken sie über meine Aussagen? Was denken sie über mich? Bin ich «nur» ein verletzter

Gläubiger oder habe ich sie als Gläubigen verletzt? Ich diskutiere gerne mit Respekt und auf Augenhöhe. Wenn es um die Sache, das System Gemeinde geht, bin ich dabei. Wenn es darum geht, mir den Glauben abzusprechen, bin ich weg. 

Danke für das lizenzfreie Foto von Pexels.com