Ich glaube an Gott und nicht an die Gemeinde
Frage Gott hinterfrage nicht die Church
Was kommt ihnen bei dem Begriff Freikirchen in den Sinn? Was denken sie über Sex vor der Ehe und der Abgabe von 10% des Einkommens an die Gemeinde? Ich glaube an einen lebendigen Gott, und dass Jesus für uns den Tod am Kreuz auf sich nahm. Den Glauben an ein christliches, konservatives Weltbild, geprägt von Bibelauslegungen und den eng definierten Strukturen, habe ich verloren.
Ich bin kein Aussteiger und habe mich nicht von meinem Glauben abgewendet. Über 20 Jahre bewegte ich mich im christlichen Kuchen und habe mich von ihm ernährt. Manche Stücke schmeckten mir hervorragend. Bei anderen habe ich mich gefragt ob die Rezepte auch gesund sind. Je mehr ich mich mit der Zusammensetzung, Aufbau und Struktur meiner Ernährung beschäftigte, merkte ich, dass dieser Kuchen oder Teile davon, mich krank machen.
Glaube und vertraue, sind Wörter, die man in vielen Predigten hört. In meiner Kindheit habe ich verschiedenartige Grenzüberschreitungen erlebt. Darum gibt es bei mir kein blindes Vertrauen mehr. Wenn ich einer christlichen Autoritätsperson glauben soll, dann will ich auch fragen und hinterfragen können. Doch das wird in christlich konservativen Kreisen, (wie auch in Sekten) gar nicht gerne gesehen:
„Ich spüre bei dir einen Geist der Rebellion. Meinst du wirklich, Gott hat Freude daran, wie du über ihn denkst?“ Im Klartext heisst das: Du hast mich als Leiter der Gemeinschaft ohne Wenn und Aber zu respektieren. Wenn du das nicht willst, entsprichst du nicht mehr meinem Bild eines gläubigen Christen.
Das sind meine persönlichen Erlebnisse. Die aufgeführten Beispiele habe ich so erlebt, oder kenne sie aus erster Hand und nicht vom Hören Sagen. Ich spreche nie über „alle“ gläubigen Christen, und bemühe mich, nicht alle in einen Topf zu werfen. Mein Ziel ist, ungesunde Grundlagen, Strukturen und Mechanismen von christlichen Gemeinschaften und Freikirchen zu erläutern. Es gibt viele Situationen in diesem System, wo gläubige Menschen manipuliert und missbraucht werden können. In einige bin ich hineingeraten. Herauszukommen hat mich sehr viel gekostet.
Jesus löst all deine Probleme
Lange Zeit war dieser Spruch das Hauptargument, um Menschen zu bekehren. Jugendliche haben es nicht leicht. Das Erwachsenwerden ist schwierig und wird es immer sein. Wenn jemand voll Eifer und mit einem übersteigerten Sendungsbewusstsein von einer Lösung für alle Probleme spricht, lassen sich viele Teenies mitreissen. Das dem nicht so ist, erfahren sie spätestens, wenn die sorgenvolle Mutter gar nicht zufrieden ist, dass es bei der Evangelisation länger gedauert hat als mit ihr vereinbart.
Ein grosser Teil der Menschen, die sich für den christlichen Glauben entscheiden, erhalten dadurch ein Fundament und Halt, der sie trägt. Sie haben ihrem Leben einen Sinn gegeben. Es gibt aber auch die, welche an ihrem Glauben scheiterten. Sie brachten es nicht fertig, so zu leben, wie es in der Bibel steht und vom Pastor gepredigt wird. Vor den Augen des härtesten Gerichts der Welt, den christlichen Brüdern und Schwestern, wurden sie immer wieder schuldig gesprochen.
Von diesen Schicksalen hört und liest man nichts. Auf den christlichen Medienportalen reihen sich Wunder an Wunder. Der Glaube muss eine einzige Erfolgsgeschichte sein. Jesus heilt von allen möglichen Krankheiten und bewegt Menschen ihren ungesunden Lebensstiel zu ändern. Alkohol, Drogen, Missbrauch alles kann er heilen. Ich glaube an Wunder. Stutzig werde ich jedoch, dass ich selten von jemandem höre, bei dem es nicht funktioniert hat. Offensichtlich darf der Glauben nicht versagen. Wenn von Problemen und Scheitern gesprochen wird, dann nur wie, sie überwunden werden konnten. Versagen existiert im christlichen Wortschatz nicht.
Als ich einen Leiter einer Gemeinschaft fragte ob, es in seinem Leben eine Situation gegeben hat, in der er sich nicht auf seinen Glauben stützen konnte, erhielt ich Bibelstellen und keine Antwort. Das Burnout des Predigers hat ihn innerlich wachsen lassen. Das, obschon er bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt aussah, als springe er von der nächsten Brücke. Die frisch verheiratete und bekehrte Frau hatte im Glauben all ihre Medikamente abgesetzt, denn Gott ist jetzt ihr Arzt. Ich wunderte mich nur, dass sie selbst auf mich als Laien, einen psychisch labilen Eindruck hinterliess.
Auch wenn heutzutage immer weniger vom Problemlöser gesprochen wird, Jesus ist noch immer die Antwort auf alle Fragen des Lebens. Wenn sie im Gebet von Gott nicht beantwortet werden, übernimmt das sehr gerne ein Gemeindemitglied, Seelsorger oder Pastor. Sie sind die Spezialisten für meinen finanziellen, sexuellen und existentiellen Probleme.
Überzeugte Christen, die keine Antwort wissen und sich nicht mit einem passenden Bibelzitat aus der Situation zu retten versuchen, gibt es aus meiner Sicht immer noch zu wenig. Auf mich hinterlässt es aber einen grösseren Eindruck, wenn ein Mann Gottes kapituliert, als wenn „Jesus all deine Probleme löst.“
Der Mensch denkt – der Pastor lenkt
Ein feuriger, motivierender und mitreissender Pastor zieht Massen in seinen Bann. Seine Worte werden als Podcast aufgenommen und persönlich notiert. In der nächsten Woche wird die Predigt in den Hauskreisen erörtert. Man diskutiert, wie wir gemeinsam dem vorgegebenen Ziel näherkommen. Thema ist, wie man das Gehörte umsetzen kann, aber sicher nicht, ob er mit seiner Ansicht richtig lag.
Wir müssen uns dem Gemeindeleiter unterordnen, denn das ist ein biblisches Prinzip. Er geniesst unser uneingeschränktes Vertrauen. Seine Worte sind alle zu 100% biblisch begründet. Es ist wie
Gott durch seinen Mund zu uns spricht. Fragen zu den Beweggründen, warum er genau zu dem Schluss gekommen ist, sind verpönt. Seine Bibelauslegung zu hinterfragen ist verboten. Als rechtschaffenes Mitglied habe ich gar keine andere Wahl, als dieser einen Person zu glauben.
Wenig Christen setzen sich mit der Bibel auch kritisch auseinander. Meistens bleibt es bei einer täglichen Bibellese, mit Hilfe eines Leseplans. Das ist grundsätzlich nicht schlecht und für viele eine Bereicherung. Durch sein „hauptberufliches Bibelstudium“ ist aber der Pastor im entscheidenden Vorteil. Er hat sich länger und intensiver mit dem Wort Gottes auseinandergesetzt. Darum fällt es vielen Gottesdienstbesuchern leicht, seine Predigt 1:1 zu verinnerlichen, als eine eigene Ansicht zu übernehmen.
In charismatischen Gemeinschaften wird auf das „Gott erleben“ einen grösseren Wert gelegt als auf das Bibelstudium. Oft dient als Gottesdienstgrundlage ein oder zwei Verse. In Ausnahmefällen, wird noch in ein paar Sätzen, das damalige Umfeld beleuchtet. Was danach folgt ist ein Erlebnisbericht vom Pastor.
Einmal hörte ich eine dreiviertel Stunde zu, wie er auf der Fähre nach Sardinien eine Windhose beobachtet hat, in der sich ihm am Ende Gott offenbart hat. Komischerweise schien bei einem anderen Prediger an zwei verschiedenen Besuchen die Sonnenstrahlen genau auf unsere Stadt. Dass beim zweiten Mal das ganze Mittelland bedeckt war, ist ein anderes Thema.
Das sind zwei harmlose Fälle. Was ist aber, wenn über Finanzen gepredigt wird, und sich dadurch jemand gedrängt fühlt, mehr zu geben, als eigentlich sinnvoll für ihn ist? Entspricht es auch dem Willen Gottes, dass er dadurch in Zahlungsrückstand gerät? Ein amerikanisches Beispiel gefällig? Bitte schön:
Ein amerikanischer Pastor erklärte im Gottesdienst, wie er das „Homosexuelle Problem lösen wolle. Er sperrt Schwule und Lesben in zwei getrennte umzäunte Felder und werfe ab und zu etwas Essen ab. Seine Respektlosigkeit ist das Eine. Noch viel schlimmer war für mich, dass einige seiner Gemeindemitglieder seine Aussage mit „Yes Preacher“ beantworteten.
„Ich gebe nur Denkanstösse. Was die Gottesdienstbesucher daraus machen, ist ihre Sache.“ Mit solchen und ähnlichen Ausreden stehlen sich die Diener am Wort oft aus der Verantwortung. Dabei missachten manche bewusst, dass zwischen dem Gemeindemitglied und dem Pastor ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Es ist nicht einfach ein Vortrag, bei dem der Besucher selbst entscheiden kann, was auf seine Situation zutrifft und was nicht. Menschen in seelischen Nöten gibt es, wider Erwarten, viele in den Gemeinschaften. Oft haben sie jede Objektivität verloren und setzen in ihrer Situation alles und ich meine wirklich alles auf den Glauben. Der Verstand wird dabei ausgeschaltet.
Denn wenn der Pastor sagt, dass man wirklich alle Bereiche seines Lebens ihm (bzw. Gott) übergeben muss, dann tut man das. Hinterfragen und dem Prediger kritische Fragen stellen ist nicht gern gesehen und verpönt. Die Gemeindeleitung ist von Gott eingesetzt. Kritisiert man sie, dann kritisiert man Gott direkt.
Die Auslegung des Predigers sind gleichzusetzen mit dem Wort Gottes. Wenn er das Massaker in einem Club für Homosexuelle in Orlando als gerechte Strafe Gottes bezeichnet, dann spricht er im Namen des Herrn. Ich behaupte mal, die meisten Prediger sind sich ihrer Macht sehr wohl bewusst. Ihnen liegt das Wohl der Gemeinde so am Herzen, dass sie ihren Schäfchen gerne ein bisschen nachhelfen, und sie gezielt in die eine oder andere Richtung lenken.
Die Predigt – eine unendliche Erfolgsgeschichte
Hand aufs Herz, haben sie schon einmal eine Predigt gehört, bei der es um das Versagen oder Scheitern ging, das am Schluss nicht überwunden wurde und sich in Luft aufgelöst hat? Wenn ich ehrlich bin, erlebe ich mehrheitlich Rückschläge, ich versage täglich und scheitere stündlich. Viele dieser Erlebnisse bleiben, was sie sind, ein Scheitern. Ich kann nicht nachvollziehen, warum in gefühlten 120% der Gottesdienste nur Erfolgsgeschichten erzählt werden.
Es wird ein Problem thematisiert, das der Pastor vor langer Zeit einmal hatte. Garniert mit ein paar Bibelsprüchen wird nun den Gottesdienstbesuchern suggeriert, dass auch sie in ihrem Leben damit zu kämpfen haben. Danach werden das Elend und die Verzweiflung möglichst bedrohlich ausgemalt. Am Schluss kann man für sich beten lassen. Nach dem letzten Song haben alle im Raum das Problem des Pastors in ihrem Leben erkannt und überwunden.
Als ich einen Leiter fragte, ob er auch mal versage und erlebe, dass Gott ihm nicht geholfen hat, erhielt ich eine Antwort, die jeden Politiker geehrt hätte. Ich bekam Ausflüchte, Durchhaltesprüche und eine Aufzählung wo überall Jesus siegte zu hören. Ehrlichkeit tönt meiner Meinung anders.
Misserfolg, Scheitern und eine längere Zeit am Boden liegen haben in vielen christlichen Gemeinschaften keinen Platz. Wenn, dann nur mit dem Spruch: „Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, weiter gehen.“ Denn wenn ich versage, versagt mein Glaube und dann versagt Gott. Das darf und kann nicht sein. Gott nimmt uns zwar an so wie wir sind, die Gemeinde will uns trotzdem zu einem besseren Menschen machen. Egal ob wir wollen oder nicht.
Gott nimmt uns an so wie wir sind – nicht die Gemeinde
Menschen die neu in eine Gemeinde kommen wird in den schönsten Farben beschrieben, wie Gott sie annimmt, egal was sie getan haben oder wie sie sich fühlen: „Er nimmt dich an, genauso wie du bist“. Sobald jemand regelmässig zu den Veranstaltungen kommt und wenn er sich sogar noch bekehrt, muss er so geformt werden, dass er dem Bild eines gläubigen Christen entspricht. Nach meinem Verständnis sollte, das durch den Glauben und die Beziehung zu Gott geschehen. In der Praxis übernehmen aber die Gemeindeleitung und die Brüder und Schwestern im Herrn noch so gerne diese Aufgabe.
Nachdem die Menschen vor Gott geführt wurden, dreht sich der Wind und er bläst ihnen direkt ins
Gesicht. Jetzt wird fein säuberlich aufgeführt, was wir alles verändern müssen, damit wir dem
Willen Gottes – oder besser der Gemeinde – entsprechen. Wir alle wissen, dass Jesus der einzige Mensch ohne Sünde war, und trotzdem wird von den Gläubigen erwarten, dass sie das auch anstreben.
Es gibt unzählige Sünden. Neben den strafrechtlich relevanten Vergehen ist deren Definition aber sehr individuell. Die einen nehmen die Bibel wortwörtlich. Dass viele Bibelstellen durchaus Raum zur Interpretation offenlassen, wird ignoriert. Genauso wie sie den Text verstehen, entspricht dem Willen Gottes und ist somit allgemeingültig.
Eine Bekannte pflegte eine Beziehung zu einem damals verheirateten Mann. Vom Hauskreisleiter wurde ihr nahegelegt, sie zu beenden, denn das sei nicht Gottes Wille und werde in der Bibel als Sünde bezeichnet. Das sagte er zu einer Frau, die sich erst frisch mit dem christlichen Glauben befasst. Auf ihre Frage: Ich liebe diesen Mann und kann meine Gefühle nicht einfach abstellen, wusste der Leiter keine Antwort. Im Gegenteil, für seine biblisch konservative Argumentation holte er sich extra Schützenhilfe vom Gemeindeleiter. Die Bekannte wurde aus dem Hauskreis geworfen. Dann wenn sie die Unterstützung am meisten gebraucht hätte.
Ein homosexueller Mann hat es buchstäblich innerlich zerrissen. Er suchte einen Ausweg aus seiner unerträglichen Lebenssituation. Er war der Überzeugung, ihn im christlichen Glauben gefunden zu haben. Er wurde vom Seelsorgeteam und dem Gemeindeleiter so in die Mangel genommen, dass die vermeintliche Lösung für seine Probleme, diese nur noch verschlimmerten. Der Pastor sprach vor der versammelten Gemeinde sehr abfällig über ihn, als den armen sündhaften Schwulen.
Die sexuelle Veranlagung thematisiere ich ganz bewusst nicht. Wohl aber den respektlosen, menschenverachtenden Umgang innerhalb von christlichen Gemeinden. Passt jemand nicht zu 120% in das gepredigte Glaubensschema, ist er ein Störfaktor und muss sich anpassen, oder er wird voller christlicher Nächstenliebe aus der Kirche geekelt.
Die Bibel – das Schwert Gottes und die Axt der Menschen
In der Bibel steht… dann folgt meistens eine wahllose Ansammlung von Versen, um die Verurteilung eines „geliebten“ Mitmenschen zu rechtfertigen. Wenn man eine Aussage gefunden hat, die nicht dem eigenen Bibelverständnis entspricht, ist das ein Freipass, um loszuschlagen.
In meiner Zeit in einer Lebensgemeinschaft wurde ich behandelt, als hätte ich eine Todsünde begangen. Warum – weil ich mir am Sonntagabend erlaubt habe meine Arbeitskleider für den Montag zu waschen. „In der Bibel steht, dass der 7. Tag dem Herrn gehört. Da liegt Waschen nicht drin, denn das verstösst gegen das Wort Gottes.“
Diese Moralpredigt des Leiters habe ich noch einigermassen gut überstanden. Aber was ist mit Menschen, denen geraten wird, sich scheiden zu lassen, weil der Partner nicht die gleiche Glaubensrichtung teilt?
Eine gute Freundin, fuhr in die Ferien und schlief neben und nicht mit ihrem Freund im gleichen Zimmer. Darauf wurde sie der Hurerei bezichtigt.
Wie ergeht es Leuten, denen das Verderben oder den Tod gewünscht bzw. prophezeit wird? In der Bibel steht… und das was nachher folgt, hat oft nichts mit Respekt, Anstand und Wertschätzung gemeinsam. Die Bibel als Rechtfertigung missbraucht zu kritisieren, verurteilen und zu verdammen. Dieses Buch wird wie eine Streitaxt geführt, um Mitmenschen wieder auf den vermeintlichen Weg des Herrn zurückzuschlagen.
Die Bibel ist selten so glasklar und eindeutig, wie viele selbsternannte christliche Glaubenswächter das vielleicht gerne hätten. Wenn man mit ihnen über ihre Argumente diskutieren will, beisst man aber auf massiven, praktisch unzerstörbaren Granit. Die Bibel ist das Wort Gottes und somit unfehlbar. Die Bibel muss ohne Abstriche 1:1 in die heutige Zeit übernommen werden.
Die wenigsten von uns haben Theologie studiert. Aber wer die Schule besuchte, hatte sicher auch Geschichtsunterricht. Es würde niemandem einfallen, ein Buch über Erziehung aus dem 18 Jahrhundert Heute Wort für Wort anzuwenden. Die Menschen, ihr Umfeld, die Welt verändert sich. Dem wird Rechnung getragen. Nicht so mit der Bibel.
Es gibt zig Abhandlungen, Interpretationen und Auslegungen über die Bibel. Selbst unsere Reformatoren waren sich öfters nicht einig, wie gewisse Texte zu verstehen sind. Trotzdem sind viele Christen mit konservativem Bibelverständnis der Meinung, nur so wie sie oder besser ihr Prediger die Texte interpretiert, ist der einzig richtige Weg, der Gottes Willen entspricht.
Besonders darunter zu leiden haben homosexuelle Christen. Die paar wenigen Bibelstellen, die sich übrigens alle an verheiratete Männer richten, werden als Rechtfertigungen genommen, um auf schwule und lesbische Menschen zu schiessen. Dass ihnen abgesprochen wird, Christen zu sein ist noch die harmloseste Verurteilung. Die unzähligen SittenwächterInnen in den Gemeinden sind sich nicht bewusst, was für einen seelischen Schaden sie anrichten. 98% ihrer Opfer wenden sich vom Glauben ab und nicht wenige werden in den Selbstmord getrieben. All das wegen ein paar Bibelstellen, die selbst namhafte Theologen kontrovers diskutieren.
Die allgemeine christliche Norm ohne Ausnahmen
Das Ziel jeder Leitung ist, einer Gemeinde vorzustehen in denen die Menschen ein Leben nach dem Willen Gottes führen. Wie das genau auszusehen hat, ist ganz unterschiedlich. In einer pfingstlich geprägten Freikirche ist z.B. das Sprachengebet zentral. Wenn jemand keine Taufe im heiligen Geist erlebt hat, gerät er manchmal auf die Liste der potenziellen Seelsorgekandidaten.
Ganz sicher ins Visier der selbsternannten Sitten- und Glaubenswächter (die es in jeder Gemeinde gibt), geraten Menschen, die auffallen und nicht der üblichen Gruppennorm entsprechen. Kleiden sie sich vielleicht nicht so, wie es die Ältesten wünschen, haben sie ein Suchtproblem oder sind mit der Gemeindeleitung öfters mal nicht einer Meinung, ist die nächste Seelsorgeberatung bereits gebucht.
Beschliesst ein Homosexueller, sich nicht mehr zu verstecken und offen zu seinem Partner zu stehen, wird er meist umgehend aller Ämter enthoben. Man stellt ihn vor das Ultimatum, sich therapieren zu lassen, oder er verliert seine Stellung in der Gemeinde. Er wird verurteilt, als hätte er ein Kind missbraucht. Schlägt eine Mutter ihre Kinder oder werden sie vom Vater psychisch gequält wird das oft lange nicht entdeckt, denn diese Sünden passieren im Verborgenen.
Es gibt Gemeinden, die sind vom einzelnen Gläubigen bis zum Gemeindeleiter streng hierarchisch durchorganisiert. Der Hauskreisleiter ist zugleich der Seelsorger seiner Gruppe. Seine
Betreuungsperson ist wiederum der Koordinator der einzelnen Kreise usw. Die Hauskreisleiter sind eins sehr wahrscheinlich nicht, Fachpersonen. Im Gegenteil, meistens sind das motivierte
Christen, die nichts Böses wollen aber oft Böses anrichten. Für mich ist eine gesunde
Vertrauensbasis in einer Gruppe nicht möglich, wenn der Leiter teilweise intimste Probleme von seinen Teilnehmenden kennt.
Warum mischen sich aber so viele Christen in mein Leben ein und wollen mir vorschreiben, wie genau ich zu glauben habe? Als ich mich gewagt habe, meine Beziehung zu Gott über die zum Leiter der Lebensgemeinschaft zu stellen, wurde ich behandelt, als sei ich vom Glauben abgefallen. Oft wird blinder Gehorsam und Unterwerfung gefordert. Jeder kleinste Gedanke, der nicht der allgemein christlichen Norm entspricht, wird als Rebellion gegen Gott bzw. die Leiterschaft gewertet.
Seelsorgenachschub
Ist man einmal zu einem möglichen Seelsorgekandidaten geworden, wird man bearbeitet, bis man sich beseelsorgen lässt oder geht.
Weil ich am alten Wohnort mich in der Jungscharleitung investiert habe, ging ich davon aus, dass meine Mitarbeit auch in der Gemeinde erwünscht ist. Eigentlich schon – aber doch nicht so ganz. Dem Prediger reichte nicht ein (längeres) Gespräch um mich näher kennen zu lernen. Nein, er entschloss sich, mich in die Seelsorgemangel zu nehmen.
Ich behaupte, eine grosse Anzahl ist mit dem christlichen Glauben, wie er von den Gemeinden definiert wird, überfordert. Auf der einen Seite sind wir alle Sünder, auf der anderen Seite wird uns gepredigt, was alles ein richtiger Christ tut und was er zu lassen hat. Wenn jemand z.B. noch niemanden bekehrt bzw. zum Glauben geführt hat, erfüllt er den Missionsbefehl nicht.
In dieser inneren Zerrissenheit wenden wir uns an Menschen, die uns im Glauben weiterhelfen können. Das ist meistens ein Seelsorgeteam. Das sind Leute, die sich zu diesem Dienst berufen fühlen. Meistens haben sie 1 – 2 christliche Seminare besucht. Einige haben vielleicht eine der zahlreichen Lehrgänge absolviert. Trotzdem versuchen sie sich als Hobbypsychologen.
Seelsorger oder Seelsarger
Seelsorge hat durchaus ihre Berechtigung. Es tut gut, wenn wir uns über den Alltag austauschen kann und was uns beschäftigt. Auf Augenhöhe und im gegenseitigen Respekt macht das Sinn. Das Gleichgewicht wird aber immer heikler, je grösser der Unterschied zwischen den zwei Personen wird. Der Hauskreisleiter oder ein älteres Gemeindemitglied befinden sich automatisch in einer stärkeren Position. Motivation und Berufung reichen meiner Meinung nicht aus, um in solchen Gesprächen den nötigen Abstand und Distanz zu wahren.
Weil ihnen das nötige Fachwissen fehlt, nehmen viele Seelsorger hauptsächlich die Bibel als Grundlage. Das ist nicht per Definition falsch aber oft wenig hilfreich. Wie fühlt sich ein Opfer von sexuellem Missbrauch, wenn es in der Seelsorge als eine der ersten Sätze: „Du musst vergeben!“, vor den Kopf geknallt bekommt? Hilft, „dein Körper ist der Tempel Gottes“ einem Mädchen, dass sich ritzt?
Ich hatte es nicht einfach im Leben. Als es besonders hart wurde. Schrieb ich dem Gemeindeleiter einen Brief in Form meiner Todesanzeige. Seine lapidare Antwort war: „Du gehst nicht kaputt, du gehst heil.“ Darauf forderte er mich auf, niederzuschreiben was mich alles bedrückt und beschäftigt. In der Meinung, dass am nächsten Mal nun konkret über meine Zweifel und Abgründe gesprochen wird, bekam ich nur die Antwort: „Es ist gut konntest du das mal aufschreiben.“ Das war alles.
Den Hinweis: „Je nach Situation verweisen wir Hilfesuchende an Fachpersonen“ habe ich bis jetzt nur bei einer Gemeinde gefunden. Das heisst nicht, dass alle anderen fachliche Unterstützung ablehnen. Meistens wird aber zu lange gewartet. Psychische Erkrankungen oder Traumatas wegen Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch müssen zwingend von ausgebildeten Fachpersonen behandelt werden. Wer Straftaten nicht anzeigt, macht sich meiner Meinung genauso schuldig wie die Täter. Ich behaupte, dass in der christlichen, biblischen Seelsorge viele Hilfesuchende noch stärker traumatisiert als „geheilt“ werden.
Die Gemeinde ist mehr als ein Verein
Von 1984 – 2015 war ich in verschiedenen Freikirchen aktiv mit dabei. Von konservativen bis zu charismatischen Gemeinden habe ich ziemlich viele Unterschiede erlebt. Kaum unterschieden hat sich aber die rechtliche Struktur der Gemeinden. Alle waren als Vereine konstituiert. Die Demokratie beschränkte sich aber meistens auf die Hauptversammlung. Im Alltag werden sie in der Regel von einem oder mehreren Pastoren praktisch autokratisch geführt. Als Kontrollgremium oder besser Rückendeckung erhalten sie einen Ältestenrat. Der besteht aber in den meisten Fällen aus Menschen, die der Gemeindeleitung wohl gesonnen sind. Alle anderen Dienste der Kirche sind den Pastoren meistens streng hierarchisch untergeordnet und zum absoluten Gehorsam und Rechenschaft verpflichtet.
Es kontrolliert niemand, ob sich die Leitung ethisch und moralisch korrekt verhält. Die Basis bildet der Glaube, die Grundlage die Bibel und das Vertrauen auf Gott und in Menschen die sich als Christen bezeichnen.
Dazu passt auch, dass ein Gemeindeleiter seine Jünger in innere und äussere Zirkel organisierte. Ein Vorgehen, dass eher von der Freimaurer Loge bekannt ist. In der Regel sind die Gemeindeleitung und der Ältestenrat „nur“ Gott zur Rechenschaft verpflichtet. Die Gemeindeleitung ist von Gott eingesetzt und Gott bzw. die stellt man darum nicht in Frage.
Unter einem lebendigen Glauben verstehen vor allem Freikirchen, dass man sich zu 120% Gott hingibt. Obschon seit der Reformation Menschen direkt mit Gott sprechen können, spielt die Gemeinschaft und ihre Leitung eine entscheidende Rolle. Sie wollen bis ins Schlafzimmer ihrer
Mitglieder bestimmen können, wie diese zu leben haben. So etwas versteckt man hinter der Floskel: „Wir lassen uns in Leben reden“. Direkte Verbote werden selten ausgesprochen, man merkt aber sehr gut, was erwartet wird, wenn man sich zu der Gemeinde zählt.
Eine Freikirche ist mehr als ein Verein. Es geht nicht darum, welche Lieder am nächsten Konzert gespielt werden oder welcher Trainer die Mannschaft führen soll. Wenn ich die Predigten höre, gehe ich davon aus, dass der christliche Glaube mich freisetzen soll. Mit ihm als Grundlage, gelingt mir ein erfülltes Leben. Oft erhalte ich aber einen komplett anderen Eindruck.
Gefangen im oder befreit vom System
In den christlichen Gemeinschaften nehmen viele Leiter ihre Verantwortung ernst. Sie wollen nur das Beste für ihr Umfeld. Doch wo hört die Ermutigung auf und fängt die Manipulation an? Was ist zerstörende Kritik und was echte Lebenshilfe?
Ich persönlich kenne Christen, die mit beiden Beinen auf den Boden stehen. Menschen, die ohne abzuheben durchs Leben gehen. Gläubige, die ihrem Gegenüber in Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Ein paar haben genügend Selbstvertrauen und Lebenserfahrung, dass sie in den Gemeinschaften nicht untergehen. Die meisten aber haben sich von ihren Gemeinden verabschiedet.
Fragen zum Hinterfragen
Was denken sie über meine Aussagen? Was denken sie über mich? Bin ich «nur» ein verletzter
Gläubiger oder habe ich sie als Gläubigen verletzt? Ich diskutiere gerne mit Respekt und auf Augenhöhe. Wenn es um die Sache, das System Gemeinde geht, bin ich dabei. Wenn es darum geht, mir den Glauben abzusprechen, bin ich weg.
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